17. FREIHEIT UND BLASPHEMIE: EINE DER KOMPLEXESTEN GLEICHUNGEN DER GEGENWART

Die letzten Jahrzehnte waren gezeichnet von Situationen, in denen religiöse Gruppen miteinander in Konflikt gerieten oder in Auseinandersetzungen mit Gruppen militanter Atheisten. In der Tendenz und in den “auffälligsten” Fällen, in denen die Reaktionen heftiger und die Repressalien gewalttätiger ausfielen, erfolgte die Konfrontation durch die Verlesung von Beleidigungen durch einige islamische Medien. Aber auch der katholische und christliche Horizont blieb nicht verschont: Christus, das Kruzifix und der Papst waren häufig Ziel von Karikaturen und anderen künstlerischen Ausdrucksformen, die zu Darstellungen führten, die sich weit von den offiziellen, einvernehmlichen, bequemen und in religiöse Narrative eingebetteten Interpretationen entfernten.

Die Aufzählung dieser Ereignisse dauert lange. Martin Scorsese und seine Letzte Versuchung Christi aus dem Jahr 1988 sowie Salman Rushdie und seine Satanischen Verse aus dem Jahr 1989 wären die ersten Erwähnungen in dieser chronologischen Liste, die uns näherliegen und auf die viele andere Texte, Skulpturen, Darbietungen folgen würden. Es handelt sich dabei um Filme, Gemälde oder Lieder, die nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern auch in Form von Gewalttaten, wie dem Terroranschlag auf die Büros der Satirezeitung Charlie Hebdo in Paris, harscher Religionskritik oder gar Verurteilung erfahren haben. Beim Betrachten dieses Phänomens ist es wichtig, dass wir zwei Blickwinkel, mit zwei verschiedenen aber komplementären Perspektiven, adaptieren. “Westliche” oder verwestlichte Künstler*innen versus religiöse Gemeinschaften und Entscheidungsträger*innen. Manche nutzen die Rechte, welche ihnen die Idee von Freiheit garantieren, andere vertreten die Auffassung, dass die begangenen Straftaten Symbole, Orte oder Personen verletzen und rechtfertigen somit die durchgeführten Rechts- und Racheakte, sei es eine einfache öffentliche Zurechtweisung und Ablehnung oder sogar die Aufforderung zur Gewalt und die Forderung nach dem Tod derjenigen, die die Straftaten ausgeführt haben.

Die kunstschaffende Person stellt sich an einen Ort der individuellen Interpretation einer der Säulen unserer säkularisierten Kultur, in der die Freiheit das künstlerische Schaffen ermöglicht, auch wenn es mit bestehenden Institutionen, seien es religiöse oder zivile, kollidiert. Allgemein schafft Kunst durch Formen welche mit dem Etablierten kollidieren Narrativen, welche den normalen Gebrauch von Symbolen untergraben. Die Intention ist, Bewusstsein zu wecken, zu kritisieren, ungewöhnliche Aspekte aufzudecken oder sogar die religiöse Realität zu dekonstruieren.

Die Grenze ist, aus einer religiösen Perspektive, Blasphemie, im Rahmen der Auslebung der Konzeption von Freiheit, in welcher jedes Individuum das Recht hat, zu verletzen, und dann die Konsequenzen, welche der Staat basierend auf der Interpretation des Charta Textes der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Declaration of the Rights of Man and of the Citizen, 1789) rechtlich definiert, zu tragen. In der Charta heißt es, dass die Freiheit eines jeden dort endet, wo sie mit den Rechten eines anderen kollidiert [1].

Auf der religiösen Seite ist die Sichtweise genau umgekehrt. Der Gläubige hat die Pflicht, seinen Glauben, seinen Gott und seine Religion zu verteidigen. Und er hat diese Pflicht, nicht nur, weil die Heiligen Texte oft darauf hinweisen (im Allgemeinen, indirekt und nicht einvernehmlich), sondern auch, weil es für ihn keinen Unterschied zwischen heilig und profan gibt, zwischen denen, die wirklich Teil ihrer Religion sind, und denen, die es nicht sind. Alles ist heilig. Und das ist die Basis von Intoleranz unter den meisten monotheistischen Religionen: das Universum ist ihr Ziel.

Jede*n zu erreichen ist die Berufung, nicht nur durch das Gefühl einer Mission, welche Wachstum impliziert- die Nachricht und Erlösung zu mehr und mehr Menschen zu tragen- sondern weil, im Monotheismus, alles und jede*r von einer, unwiederholbaren göttlichen Schöpfung kommt. Sie sind Subjekt des Ganzen und schulden ihm Unterwerfung, ob sie Gläubige sind oder nicht. Da Gott der Einzige im Spektrum des göttlichen ist- deshalb Gott und nicht gott-, und da Er der Schöpfer aller Wesen ist, ist die Strafe für eine Verletzung global zu verstehen, nicht teilweise oder operationell. Mit der Verletzung eines einzelnen Gotts wird nicht nur ein Wesen verletzt, sondern die vollständige Weltordnung des Universums und die gesamte kosmische Balance.

Und hier liegt der Grund für all die hochgradig aufgeladenen Reaktionen, das Ausmaß und die Rechtfertigung der Gewalt, aber auch die Unfähigkeit, auf den so genannten “Westen” zu schauen und zu erkennen, dass die Staaten nicht mehr theokratisch sind, sodass ihre Rolle und ihre Fähigkeit, diese blasphemischen Äußerungen zu verbieten, schlichtweg nicht existiert.

Die Idee, dass Freiheit dem Staat unterliegt, erlaubt nicht mal die Möglichkeit des Vonstattengehens einer solchen Kontrolle.  

Heutzutage hat der Westen, besonders die USA, zwei hochexplosive Dimensionen in diesem Rahmen. Einerseits können westliche Staaten, selbst jene, wessen Verfassungen religiöse Affirmationen beinhalten, nichts tun, um ihre Bürger*innen davon abzuhalten, ihre Fähigkeit zu blasphemieren zu nutzen. Andererseits haben sie die zuvor genannte Veränderung durch das systemische Intervenieren in das Management lokaler und regionaler Interessen als eine kosmische materialisiert. Unter dem Gesichtspunkt einer Religiosität, die wir im Westen bereits hatten und die bis vor einigen Jahrhunderten transversal zu uns lag, materialisiert und beweist das westliche Handeln diese dämonische Dimension.

Wir haben ein unterschiedliches Verhältnis zum Begriff des Staates und zur Idee der Freiheit. Diese Unterschiede werden mit jedem Akt, der geschieht, akzentuiert und mit jeder erfolglosen militärischen Intervention verschärft. Diese Eskalation muss gestoppt werden, auch auf die Gefahr hin, dass wir das Gemeinsame verlieren und nur noch das Trennende behalten.

Paulo Mendes Pinto

Koordinator der Religionswissenschaften an der Universität Lusófona (Lissabon, Portugal)